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Ein Blick in den Abgrund, ein Stück aus Fragmenten: Schauspielstudierende aus Hannover zeigen an der Expo-Plaza ihre Version von „(Blank)“ von Alice Birch, ein niederschmetternder und bereichernder Abend.

Sie haben ihr Haare an den Zehen ausgezupft, ein Streichholz an ihre Haut geführt, sie mit einem Schuh beworfen, aber die Mutter ist einfach nicht aufgewacht. Sie hat zu viel getrunken, mal wieder, verbraucht von einem Beruf, der sie immer wieder zu Opfern häuslicher Gewalt führt, zu einem Kleinkind zum Beispiel mit gebrochenem Arm und Verbrennungen. Und ihre eigenen Kinder wissen nicht weiter. Da ist nur Sehnen, Hilflosigkeit, eine Leerstelle, in Alice Birchs Stück „(Blank)“, das nun im Studiotheater an der Expo-Plaza seine Premiere feierte.

Wobei: Stück? Birch hat 100 Szenen geschrieben darüber, was Menschen anderen Menschen antun, manche einige Minuten lang, andere nur wenige Sekunden. Den Inszenierenden ist es anheimgestellt, sich beliebig zu bedienen, neu zu arrangieren und aus all den Geschichten eine eigene Handlung zu formen. Ein Viertel von ihnen passt in den bald dreistündigen Abend (mit Pause) an der Plaza, den Regie-Professor Titus Georgi mit Schauspielstudierenden des dritten Semesters komponiert hat.

Opfer und Täterinnen
Lukian Anhölcher, Samuel Mikel, Aniela Ebel, Finn Faust, Julia-Mareen Korte, Konstantin Lohnes, Emma Marie Nielsen, Flora Reim, Anna Stebut und Joel Kito Salvatore legen eine Spielfreude an den Tag, die dem Niederschmetternden des Erzählten zu widersprechen scheint und sie doch allzeit verstärkt.

Birch geht dahin, wo es wehtut; das war schon in ihrem Stück „Anatomy of a Suicide“ so, das 2021 im Schauspielhaus Premiere hatte. Sie erzählt von Verzweifelten, von Müttern zumeist und ihren Kindern, von Zumutungen und von einem Rechtssystem, das ihnen unrecht tut, wenn sie von Opfern zu Täterinnen werden. Szenen berühren und überschneiden sich. Mal stehen sie auch scheinbar zusammenhangslos nebeneinander. Aber ein Gesamtbild entsteht.

Mildtätigkeit als Make-up
Und während das Ensemble in teils rasendem Szenenwechsel in der Mitte des Raums seelische Abgründe erkundet, blickt sich das auf gegenüberliegenden Tribünen platzierte Publikum zwangsläufig ins Gesicht. Lauter Leute und keine Gesellschaft. Das ändert sich auch nicht, als man nach der Pause unter Wohlstandsverwahrloste gerät, die ihre vermeintliche Mildtätigkeit wie Make-up zur Schau stellen.

Am Ende erklingt ein Notruf, an Feuerwehr, Polizei, irgendwen. Aber da ist keine Hilfe, nirgendwo, nur eine Leerstelle. Und dann trotz aller Erschöpfung langer und sehr ausdauernder Applaus.

Stefan Gohlisch
Neue Presse

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