Hannoversche Allgemeine Zeitung
Viel Klagen um Nichts
Die hannoverschen Schauspielstudenten zeigen im Studiotheater das Stuck „Nach Moskau?!"
Es herrscht Stimmengewirr auf der Bühne. Zwölf Personen drängen sich auf ihr, darunter drei Schwestern, die nur ein Thema haben: Sie wollen so schnell wie möglich nach Moskau ziehen. Mit sämtlichen Freunden und Bekannten fantasieren sie von einer Zukunft in der Metropole, In der alles besser werden wird. Unter der Regie von Jan Konieczny entstand in Anlehnung an Anton Tschechows Werk "Drei Schwestern" das Stück nach Moskau!? Mit Studenten des dritten Studienjahres Schauspiel.
Seit geraumer Zeit leben Olga, Mascha und Irina mit ihrem Bruder Andrej entfernt vom Zentrum in der Hoffnung, der Bruder würde Wissenschaftler werden und der Familie so das Leben in Moskau ermöglichen. Aber Andrej entscheidet sich für die Ehe mit der herrschsüchtigen Natascha, verfällt dem Glücksspiel und verliert so dass Erbe. Der Traum von Moskau bleibt ein Traum.
Das Reizvolle an dem Stück ist, dass es keinen Handlungsschwerpunkt, keinen Spannungsbogen und eigentlich auch keine Entwicklungen der Figuren gibt – Andernfalls nehmen bei Ihnen die psychotischen Schübe zu. Jede Figur zerbricht daran, dass sie ihre Vorstellungen von Glück nicht verwirklichen kann.
Die charismatische Ayana Goldstein als Olga ist die Einsame, die jeden Mann heiraten würde. Denia Nironen als Mascha verzweifelt an der Vorstellung, ein Leben lang mit ihrem verweichlichten Mann leben zu müssen, und beginnt eine Affäre mit einem Offizier. Sie setzt ihre Stimme wunderbar farbig ein: verführerisch, zitternd vor Wut, durchdringend. Auch Leonie Rainer als jüngster Schwester Irina gibt sich wegen der anstehenden Vernunftheirat wunderbar unglücklich. Zum Bemitleiden! Großartige Gefühlsausbrüche zeigt Florence Adjidome, die Schwägerin Natascha. Mal ist die heißtblütige Geliebte (nicht nur ihres Mannes), ächzt und stöhnt, dann wieder die übersensible Mutter, schließlich die Gnadenlose, die ihren Herrschaftsanspruch im Haus der Schwestern durchsetzt.
Das ganze Drama das nicht erreichten Glücks lockert Regisseur Konieczny immer wieder durch komische Momente auf. Er überdreht die Charaktere mehr und mehr, sodass die hochsensiblen Schwester schlussendlich fast nur noch weinen. Dem Publikum gefällt die Entschärfung der Dramatik, und es bedankt sich bei den Studierenden mit minutenlangem Applaus.
Von Agnes Beckmann
Schauspielschultreffen in Berlin
Wer kennt sie nicht, die drei Schwestern und ihre Sehnsucht. „Nach Moskau! Nach Moskau!“ Heraus aus dem eingeschränkten Leben in der russischen Provinz, weg von der herrschsüchtigen Schwägerin, die sie mehr und mehr aus ihrem Haus verdrängt. Weg von dem spielsüchtigen Bruder, der ihren Anteil am Erbe verspielt hat. Nie werden sie nach Moskau kommen. Und auch die zweite Hoffnung auf ein erfülltes Leben durch Arbeit wird scheitern. Eine realistische Bühne, ein kleiner Guckkasten mit zwei Zimmern, Enge. Dann nur das Bett der Schwestern Olga und Irina, ihre Insel im sturmgepeitschten Alltag. Obwohl die Schauspieler vom ersten Akt gerade mal den Schluss andeuten, den vierten hier ganz weglassen mussten, geht nichts vom Kern der Geschichte verloren. Sich selbst betrügen und betrogen werden. Schön drastisch gelingt den Schauspielern der Versuch im Haus der Schwestern, durch Geselligkeit etwas Heiterkeit, Ausgelassenheit zu beschwören, bis hin zum Tanz von Irina auf dem Tisch. Ingesamt herrscht eine manchmal etwas derbe Tragikomik, ein bisschen viel Russen-Klischee, dann gelingt wieder eine Zartheit, ein hübsch zweideutiges Spiel mit dem Text. Der bemüht sachlich geführte Dialog von Mascha und dem Oberst etwa wird begleitet von sexuellen Handgreiflichkeiten. Sehr komisch! Insgesamt ist die Spielweise des Ensembles etwas zu unterschiedlich, einige neigen zur komischen Nummer, andere füllen ihre Figur mehr psychologisch. Auch bemerkenswert, wie selbstverständlich Samuel Koch in das Ensemble integriert ist. Als illusionsloser Arzt im Rollstuhl zeigt er eine überzeugende Leistung. Er fährt aggressiv, er fährt komisch und immer virtuos. Jeder Blick, jeder Satz kommt ganz von innen, trocken und leise.
Große Begeisterung und Preis der Studierenden für einen heiteren, temperamentvollen
Tschechow.
Ulrike Kahle-Steinweh