Schauspielstudenten spielen Lars Noréns Personenkreis 3.1
An der Studiobühne auf der Expo-Plaza nehmen Schauspielstudenten Menschen am Rande der Gesellschaft unter die Lupe. Was ist dabei zu sehen?
Die Studiobühne an der Expo-Plaza ist zum Forschungslabor umgebaut: An den beiden langen Seiten des Raums sitzen die Zuschauer wie Wissenschaftler, die auf die rechteckige Arena in ihrer Mitte blicken, als sei sie ein präparierter Querschnitt unter dem Mikroskop. Dort ist eine Art Hindernisparcours aufgebaut, stilisierte Elemente eines kalten urbanen Zufluchtsorts. Dabei an den hannoverschen Raschplatz zu denken, fällt nicht schwer. Tatsächlich sind die Figuren in Lars Noréns Stück „Personenkreis 3.1“ Menschen am Rande der Gesellschaft – Ausgestoßene, die nicht ins System passen.
Norén hat Geschichten gesammelt im „Personenkreis 3.1“, der in der schwedischen Bürokratie Menschen der Kategorie „asozial“ bezeichnet. Aus seinen Begegnungen mit Drogensüchtigen, Obdachlosen, Langzeitarbeitslosen, Alkoholikern und psychische Kranken hat er eine achtstündige Collage mit mehr als 30 Rollen geschaffen. Die Studierenden des dritten Studienjahrs Schauspiel an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover greifen sich für ihre Inszenierung unter der Regie von Nora Somaini neun Figuren heraus, die sie in zweieinhalb Stunden als desolate Schicksalsgemeinschaft präsentieren.
Es sind auf den ersten Blick Archetypen, im Programmheft nur bezeichnet als „der Alkoholiker“ oder „der Schizophrene“. Erst in der Langzeitbetrachtung treten deren Persönlichkeiten zutage. Das Theater nimmt sich Zeit, dem Alltag gerecht zu werden, es spiegelt den Unterschied zwischen einer flüchtigen Begegnung voller Vorurteile und einem Einlassen auf Mitmenschen wider. Die sich durchdringenden Monologfragmente und leerlaufenden Dialoge, Ausbruchsversuche und Gesellschaftssehnsüchte entwickeln einen sich intensivierenden Sog.
Die Darsteller gleiten dabei immer tiefer in ihre Rollen, lassen fragmentarisiertes Erleben und instabile Wirklichkeiten greifbar werden. Dabei sind es gar nicht immer die lauten Momente, die am meisten beeindrucken. Wer den Blick über all die kleinen Gleichzeitigkeiten schweifen lässt, wird belohnt durch berührende Details am Rande. „Personenkreis 3.1“ verführt sein Publikum zum genauen Hinsehen.
Thomas Kaestle
Hannoversche Allgemeine Zeitung
Laudatio
Forderpreis der Bundesministerin fur
Bildung und Forschung der Bundesrepublik Deutschland
2.000 Euro
Arash Nayebbandi von der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover für seine Rolle als „Der Arbeitslose" in der Produktion „Personenkreis 3.1"
Laudatio von Christoph Luser
Das Stück „Personenkreis 3.1" des schwedischen Autors Lars Norén ist der Bodensatz einer Tragödie: Es führt in Abgründe, in die kaum Licht fällt - so tief sind die Figuren gesunken.
Fast hatte man den Eindruck, als habe das En-semble, genau wie der Autor übrigens, in jenem Milieu recherchiert, das das Stück zeigt. Die Schauspielerinnen und Schauspieler scheinen sich mit großer Beobachtungsfreudigkeit ein Soziotop erschlossen zu haben, das hoffentlich niemand von ihnen vorher näher kannte. Ein Schauspieler ist uns in dieser Inszenierung besonders aufgefallen: Er hat uns mit seiner Ausstrahlung beeindruckt, mit seiner Kraft und dem Mut, uns die Existenzmöglichkeit in einer Welt jenseits derjenigen zu zeigen, in der wir zuhause sind oder sein wollen. Er zeigt uns das Geschei-terte, das Verlorene, das Böse, das Habgierige, cas Unkontrollierte und Unkontrollierbare - und die dahinterliegende Möglichkeit des Gegen-teils: eines nach herkömmlichen Maßstäben ge-glückten Lebens. Und in diesem Widerspruch aus Anspruch und Realität, aus Sehnsucht und Scheitern können wir erkennen, was die conditio humana - die Natur des Menschen - ausmacht.
Der junge Mann hat die Mittel und den Mut, die Welt nicht nur zu zeigen, wie sie sein sollte, sonder wie sie dort ist, wo wir ungern hinschauen, weil es weh tut.